Manchmal frage ich mich:
Wo warst du, Mama, als alles zerbrach?
Als die Nächte zu lang waren, die Angst zu laut und das Herz zu schwer?
Ich erinnere mich an Türen, die fielen. An Stimmen, die verstummten.
Und an dich – irgendwo zwischen Glas, Rauch und dem Versuch, dich selbst nicht zu spüren.
Der Alkohol sprach lauter als deine Liebe.
Deine Welt war betäubt, während ich deine Nähe suchte.
Ich war dein Kind – und du warst oft nur ein Schatten.
Liebe musste ich mir erkämpfen, aus Stille, aus Mangel, aus mir selbst.
Ich hab gelernt, wie man lacht, wenn’s weh tut.
Ich habe früh verstanden, dass Nähe nicht selbstverständlich ist.
Dass manche Mütter nicht böse sind – nur verloren.
Ich habe gelernt, stark zu sein, weil ich es musste.
Zu lächeln, wenn es brennt.
Zu funktionieren, wenn alles fällt.
Du hast mir unbeabsichtigt gezeigt,
wie Kälte sich anfühlt – und wie man trotzdem warm bleibt.
Du warst da, ja. Körperlich.
Aber nie ganz anwesend.
Ich habe mich selbst grossgezogen, mit Fragen, die nie beantwortet wurden.
Dein Schweigen war dein Erbe – und ich trug es, leise, durch die Jahre.
Mama, wo warst du, als ich dich gebraucht hab?
Ich suchte dich in allem:
in Menschen, in Momenten, in jedem Lächeln, das ein bisschen so war, wie deins hätte sein sollen.
Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn du einmal gesagt hättest:
„Ich seh dich.“
„Ich bin da.“
„Ich bleib.“
Doch du kamst nie.
Und irgendwann hörte ich auf zu warten.
Heute klag ich dich nicht mehr an.
Ich hab verstanden:
Manche Menschen verlieren sich selbst,
bevor sie jemand anderen lieben können.
Vielleicht warst du nie grausam – nur gebrochen.
Vielleicht hattest du nie die Kraft, Mutter zu sein,
weil du selbst Kind geblieben bist – im Schmerz, im Stillstand, im Vermissen.
Ich trage deine Narben mit mir,
aber sie bestimmen mich nicht mehr.
Ich hab gelernt, dass Heilung nicht bedeutet, zu vergessen –
sondern nicht mehr in der Wunde zu leben.
Heute sag ich leise:
Ich war da, Mama.
Du nicht.
Und trotzdem hab ich’s geschafft.
Ich hab mich selbst gehalten,
mir selbst Liebe beigebracht,
mir selbst das gegeben, was du mir nicht konntest.
Ich bin kein Opfer deiner Abwesenheit.
Ich bin der Beweis, dass man auch ohne Wurzeln wachsen kann.
Ich frag nicht mehr: „Mama, wo warst du?“
Ich weiss es längst.
Und ich hab aufgehört, dort zu suchen, wo nichts mehr ist.
Denn ich hab mich gefunden.
Und das reicht.